Sarajevo

Vom Nachdenken über Geschichte über und in der Stadt zwischen den Welten

Der letzte Tag der ganz und gar wunderbaren Zeit im Una Nationalpark hatte also eine ziemliche Magenverstimmung für einen Teil der Familie mit sich gebracht. Nach einer sehr unschönen Nacht für das große Kind und mich musste Martin dann ohne nennenswerte Unterstützung meinerseits die Kinder und alles Gepäck zusammenpacken und ins Auto verfrachten und dann eine etwas angeschlagene Familie Richtung Sarajevo befördern. Die Fahrt ging durch grüne Berge und immer wieder vorbei an schönen Flüssen – besonders die Gegend um Jajce wäre wohl durchaus auch einen Urlaubsstopp wertgewesen. Nachdem sich das aber leider nicht mehr ausgegangen war, waren wir ganz schön lange unterwegs und erst nach etwa fünf Stunden in unserer neuen Ferienwohnung in Sarajevo angekommen. Die liegt dafür grandios – man ist in wenigen Minuten im belebten Zentrum und es ist trotzdem total ruhig. Sophie hat sich außerdem sehr gefreut, weil sie fand, dass das Wandtattoo eines Fahrrads in der Wohnung genauso aussah wie ihr eigenes neues Fahrrad daheim. Am ersten Abend waren dann jedenfalls nur Sophie und Martin in der Lage, sich noch ein bisschen ins Getümmel zu werfen.

Der Rest der Familie war dann zum Glück am nächsten Tag auch weitgehend wiederhergestellt. Die erste Unternehmung führte uns erst einmal aus der Stadt hinaus – man kann hier nämlich mit der Seilbahn auf den Berg Trebević fahren und nachdem wir alle Seilbahnfahren sehr gerne mögen, schien uns das ein guter Auftakt zu sein. Es war tatsächlich auch sehr nett. Die Seilbahn war von unserer Wohnung aus in fünf Minuten zu Fuß erreichbar und brachte uns in weiteren zehn Minuten in die Natur. Auf dem Trebević gibt es einen phänomenalen Blick über die Stadt und Überreste einer mit Graffitis übersäten Bobbahn der olympischen Winterspiele von 1984. Ein etwa surrealer Lost Place, aber auch ein ziemlich toller Spielplatz sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Die Bahn sind wir also ein gutes Stück bergab gegangen, was sehr entspannt war, und dann natürlich auch wieder zurück bergauf, was ein wenig anstrengender war. Man hätte auf dem Trebević auch noch gut wandern gehen können, aber dafür haben bei uns an diesem Tag weder die Zeit noch die Kraft ausgereicht und so ging es dann nach etwa zwei Stunden wieder hinunter in die Stadt.

In unserer Wohnung gab es eine Checker Tobi-Pause für die etwas zänkischen Kinder. Ich habe mir in der Zeit das Museum of Crimes Against Humanity & Genocide 1992–1995 angesehen, weil ich gerne mehr über den Bosnienkrieg wissen wollte und darüber, wie der Krieg museal aufgearbeitet wird. Trotz euphorischer Google- und Tripadvisor-Bewertungen würde ich das Museum allerdings überhaupt nicht empfehlen. Es erzählt einige durchaus berührende Geschichten, ich fand es aber als Museum ziemlich schrecklich. Es gibt so gut wie überhaupt keine erklärenden Texte, sondern ausschließlich (teilweise krass brutale) Objekte und Fotos, zu denen kleine Geschichten und Zeitzeugenberichte (oft ohne Nennung, wer da gerade spricht) erzählt werden. Weder erfährt man etwas über die Trägerschaft des Museums, noch wird je die Erzählperspektive kenntlich gemacht. Obwohl ich schon einiges an Vorwissen hatte, war es mir vollkommen unmöglich, einen logischen Erzählstrang zu erkennen oder überhaupt zu verstehen, worum es generell und in den einzelnen Räumen gerade geht. Interessanterweise scheint das ja viele der anderen Besuchenden überhaupt nicht zu stören, denen reicht offenbar das Gefühl, dass das schon alles sehr schlimm war damals (was es natürlich auch wirklich war) und mehr wollen sie gar nicht wissen. Bezeichnenderweise hingen dann in dem Raum, in dem man auf Post-Its eigene Gedanken hinterlassen konnte, auch hauptsächlich „Free Gaza“ und „From the river to the see …“-Zettel. Alles irgendwie egal mit diesen historischen Zusammenhängen und Details. Mich hat das Museum immerhin dazu angeregt, nochmal sämtliche Wikipedia-Artikel und „Mr Wissen To Go“-Videos zu den Jugoslawienkriegen und zum Massaker von Srebrenica und zur Belagerung von Sarajevo durchzulesen und anzusehen. (Der Raum zu Srebrenica war übrigens der einzige im Museum, der wenigstens den Ansatz eines Erklärtexts hatte – halbwegs verstanden hab ich die Geschehnisse aber trotzdem erst nach ausführlicher externer Lektüre). Aber es ist schon alles sehr komplex. Gerade aber weil die Verletzungen und Traumata hier so spürbar sind, gerade in Sarajevo (das Besuchende mit dem Ortsschild „Welcome. Sarajevo. 1425 Days under Siege“ empfängt) wäre es so wichtig, das diese Geschichte irgendwo vernünftig erzählt wird. Vielleicht wird sie das ja auch, aber dieser Ort ist aktuell auch für geschichtsinteressierte Touristen nicht so einfach auffindbar. Zurück in die Wohnung ging es dann über die Lateinerbrücke, wo 1914 ein (bosnisch-)serbischer Attentäter den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau erschossen hat. Auch über den Umgang Bosniens und Serbiens mit dem Attentat und die teilweise bis heute anhaltende Verehrung des Attentäters Gavrilo Princip könnte man seitenweise lesen und schreiben (hier zum Beispiel eine 90minütige Unterrichtseinheit dazu oder Ausführungen des DHM) – geschichtlich hochinteressant und krass kompliziert dieser Balkan (und diese ganze europäische Geschichte und der Nahe Osten und überhaupt).

Nachmittags bzw. am frühen Abend waren wir dann wieder alle zusammen unterwegs – es ging quer durch die Baščaršija, das historische und touristische Zentrum Sarajevos. Krass trubelig und voll ist es da und es hat tatsächlich ein ganz eigenes Flair, das ich noch in keiner anderen europäischen Hauptstadt so erlebt habe. Schon eher orientalisch vom Feeling her, aber gleichzeitig auch westlich. Komplett verhüllte Frauen neben modernen und schick gekleideten Damen mit Kopftuch neben Frauen im Minirock. Ein bisschen wie Jerusalem und ein bisschen wie Istanbul, aber doch ganz eigen. Es macht jedenfalls Spaß, da herumzuschlendern und sich all die Dinge anzusehen, die es da so zu kaufen gäbe – ganz viele Kupfergegenstände und typische Basarsachen und unendlich viel Baklava und andere Süßigkeiten. Und immer wieder läuft man an einer der vielen Moscheen vorbei, aber auch an katholischen und orthodoxen Kirchen. Mit Jonathan kann man da schon ganz gut darüber sprechen, wie Toleranz und Zusammenleben aussehen können (auch wenn es natürlich generell in Bosnien und Herzegowina auch aktuell noch an allen Ecken und Enden Spannungen gibt, das ist mir schon klar). Wir sind jedenfalls viel herumgelaufen und mussten dann wegen eines akuten Launenabfalls bei Sophie recht bald Essen gehen. Nach leckerer Stärkung im Restoran Careva Ćuprija gab es dann noch ein Eis und ein weiteres Treibenlassen durch die dunkelwerdenden Gassen.

Und damit ist unser Kurzaufenthalt in Sarajevo auch schon zu Ende. Sicherlich hätte es noch viel zu entdecken gegeben, aber einen guten ersten (touristischen) Eindruck der Stadt haben wir bekommen, glaube ich. Zudem wird es jetzt wohl auch wieder Zeit für ein bisschen weniger Nachdenken über Geschichte und ein bisschen mehr Urlaub. Dafür geht es in die Berge südlich von Konjic – in die Nähe von Glavatičevo.

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